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Leitung Archiv, Unterabteilung Internales

Fünf Jobs, ein Gehalt

Ablage: VORV/INT/KULT/2025/10
AblB: Strukturbildung in unterfinanzierten Projektmilieus
ElZGre: 00014
Kürzel: HB-S


Vermerk: Multiperspektivische Einzelkörper – Zur Genese kultureller Rollenpluralität bei fehlender Mittelzuweisung

Beobachtung: In jüngerer Zeit mehren sich in der Redaktionspraxis von Mensch und Kultur Hinweise auf das Phänomen der multiplen kulturellen Funktionsübernahme durch Einzelpersonen innerhalb strukturell unterfinanzierter Kultur-Startups.

Dabei handelt es sich nicht um arbeitsteilige Kooperation, sondern um die serielle Selbstvervielfältigung operativ überforderter Subjekte. Die betroffenen Personen erscheinen – bei oberflächlicher Betrachtung – als Teams, sind jedoch bei genauerem Hinsehen Einzelakteur:innen im Zustand kontrollierter Fragmentierung.

Fallstudien (Auswahl, unrepräsentativ)

Fall 1: Die künstlerische Leitung, die sich selbst bucht.
Eine Person entwickelt ein Ausstellungsformat, gestaltet das Logo, schreibt die Pressemitteilung, beauftragt sich selbst als Hauptkünstlerin, installiert die Werke, erklärt sie bei der Eröffnung und stellt die Rechnung an ein Projekt, dessen Förderbescheid noch „in Bearbeitung“ ist. Auf Nachfrage nennt sie fünf E-Mail-Adressen, um „intern besser unterscheiden zu können“.

Fall 2: Die Dramaturgin als Facility Manager.
Eine ehemalige Theaterwissenschaftlerin verfasst nicht nur Spielpläne, sondern montiert in der Mittagspause Feuermelder, leert Mülleimer, kauft Gaffa Tape auf eigene Rechnung und vermittelt zwischen Lichttechnik und Nachbarschaftsrat. Ihre Signatur enthält sieben Funktionsbezeichnungen, darunter „Künstlerische Infrastruktur“.

Fall 3: Der Fundraiser als Therapeut.
Ein ausgebildeter Kulturmanager betreut Förderanträge, verfasst Projektvisionen, betreibt Krisenintervention im Team, schreibt LinkedIn-Posts mit aufmunternden Zitaten und entwickelt eine Art „organisationales Selbstwertgefühl“, um Abwanderung zu verhindern. In internen Gesprächen verwendet er konsequent das generische Pluralpronomen „wir“, obwohl faktisch niemand sonst mehr in der Einrichtung beschäftigt ist.

Diagnose

Die beobachtete Rollenakkumulation ist nicht Ausdruck pathologischer Ich-Spaltung, sondern ein funktionales Symptom chronischer Unterfinanzierung bei gleichzeitig hohem Selbstausbeutungsindex. Klassisch ließe sich von ökonomisch induzierter Personalinternalisierung sprechen. In anderen Branchen wäre dies illegal. In der Kultur ist es strukturell erwartet, teils romantisiert.

Psychologisch handelt es sich um eine kontrollierte Überidentifikation mit der Projektidee, gekoppelt an extern erzeugten Druck zur Sichtbarkeit. In der Folge entstehen semantisch getrennte Ich-Räume innerhalb ein- und desselben Körpers: Der künstlerische „Ich“-Modus unterscheidet sich fundamental vom kommunikativen, der wiederum inkompatibel mit dem buchhalterischen ist. Dennoch treten alle in derselben Körperhülle auf – ein Phänomen, das in der Organisationspsychologie bislang unzureichend erfasst ist.

Therapie

Eine vollständige Heilung ist unter den gegebenen strukturellen Bedingungen nicht möglich. Es kann lediglich von Schadensbegrenzung die Rede sein. Zwei Maßnahmen erscheinen vorläufig praktikabel:

  1. Rollenklarheit durch sichtbare Fragmentierung:
    Die Einführung formalisierter Pseudonyme pro Funktion ermöglicht eine psychologische Entlastung. So kann z. B. „Leonie Kaltwasser, Projektleitung“ bewusst getrennt werden von „Leo Ka, Öffentlichkeitsarbeit“. Die Segmentierung schafft Räume für performative Distanz und schützt vor totaler Verschmelzung mit dem Arbeitsinhalt.
  2. Externe Spiegelung durch humorvolle Volontäre:
    Der Einsatz von ironiebegabten, semi-externalen Mitarbeitenden, die keine Kernfunktion übernehmen, jedoch kommentierend eingreifen (etwa als „Stimmungsbeauftragte“), kann einen internen Realitätsabgleich ermöglichen. In diesem Zusammenhang sei der Fall Alec Andersen erwähnt, der als humorverantwortlicher Volontär in mehreren Kontexten wirksam wurde. Ob es sich bei Andersen um eine genuine Person handelt oder um eine Projektion des Teams, ist derzeit unklar. Hinweise verdichten sich, dass auch er multipel auftritt – möglicherweise als Grenzfall der hier diskutierten Struktur.

Nachsatz

In der stillen Beobachtung dieser Phänomene liegt eine gewisse Melancholie: Wo einmal Kollektive wirkten, agieren nun Einzelne in zeitversetzten Mehrfachrollen. Das Ideal der Teamarbeit wird simuliert durch die schauspielerische Leistung einzelner Übermotivierter. Kultur entsteht weiterhin – jedoch unter Bedingungen, die zunehmend theatraler sind als das Produkt selbst.

Der Körper als Bühne, die Signatur als Kostüm.


HB-S
Redaktionspsychologe
kleinestagebuch.de
Vermerkt, bevor es vergessen wird.

Kommentare

3 Antworten zu „Fünf Jobs, ein Gehalt“

  1. Avatar von Andersen S.

    Passend:„I contain multitudes“ — Bob Dylan, I Contain Multitudes (2020) „https://www.bobdylan.com/songs/i-contain-multitudes/“

    Wir müssen reden!

    1. Avatar von HB-S

      Vermerkt: Die Selbstbeschreibung als Multitude kann sowohl strategischer Schutzmechanismus sein als auch poetische Kapitulation. Die Unterscheidung bleibt situativ. Gesprächsbedarf wird registriert. Vorschlag: schriftlich.

  2. […] Zu HB-S’ Bericht „Fünf Jobs, ein Gehalt“(Originaltext auf kleinestagebuch.de) […]

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